zur Übersicht

Krecik erzählt

Warum ausgerechnet unsere Familie Polen verlassen musste oder konnte, ist mir bis heute nicht klar. Jedenfalls kam in der Neujahrsnacht des Jahres 1997 eine Frau aus dem Westen und nahm meine ganze Familie und mich mit. Meine Familie das waren Schipa, Rambo und Sarenka und ich.
Diese Frau - „Gabi“ wird sie von den Menschen genannt - kam und steckte uns in ihr Auto. Heute weiß ich die Annehmlichkeiten eines solchen Fahrzeuges wohl zu schätzen. Heute besitze ich sogar zwei davon. Aber damals, in jener Nacht, waren wir sehr aufgeregt. So etwas kannten wir bis dahin nicht. Uns war das nicht geheuer. Wohin wollte sie uns bringen? Je länger die Fahrt dauerte, desto mehr reifte in mir der Plan, bei der ersten Gelegenheit zu flüchten. Und die Chance kam. Leider stellten wir es nicht besonders geschickt an. Unser Fluchtversuch bei der ersten 'Pinkelpause' wurde vereitelt. Wenn ich mich recht erinnere, hat sich Rambo, das Weichei, zurücklocken lassen. Da eine Trennung der Familie auf keinen Fall in Frage kam, waren wir schnell wieder bei ihm, schlossen uns ihm an und stiegen ins Auto, um weiter unserem ungewissen Schicksal entgegen zu fahren.
Nach schier endloser Fahrt erreichten wir unsere künftige Heimat Niederbayern. Was auch immer passieren sollte, Rambo, Schipa, Sarenka und ich waren zusammen, und das war schließlich das Wichtigste.
Im neuen Heim erwartete uns bereits eine andere Frau. Diese andere Frau, „Lynn“ genannt, habe ich auf Anhieb ins Herz geschlossen und mein Leben lang geliebt.
Man kann sagen was man will: vorbereitet war wirklich alles für unsere Ankunft. Jede Menge kuschelige Liegeplätze, eine warme Stube und Superessen. Also das Essen! Sicherlich, hungern mussten wir in Polen auch nicht, aber das hier! Lynn und Gabi hatten Leckereien für uns, von denen wir bisher nicht mal wussten, dass es so etwas überhaupt gab. Keine Frage, freiwillig hätten wir Polen nie verlassen, doch wir mussten uns eingestehen, dass wir uns schon sehr verbessert hatten. Wenn man nur an die kalten Winter zurückdenkt. Und wie gesagt, dieses Essen! Und da wir ja als Familie zusammenblieben, fühlten wir uns fast wie ins Paradies gebeamt.
Meine Familie, die hab ich ja noch gar nicht richtig vorgestellt. Also zuerst mal mein großer Freund Rambo. So etwas muss man eigentlich gesehen haben, beschreiben kann man das kaum. Okay ich versuch's trotzdem: So was nennt man 'Dogge'. Eine Dogge ist ein sehr großes Wesen. Der macht schon richtig Eindruck. Und mein Freund Rambo war eine sehr große Dogge. Wenn der da so stand, pechschwarz obendrein, da konnte man schon so manchen in die Flucht schlagen. Haben wir in Polen auch oft genug gemacht. Ich selbst bin etwas kleiner. Also gut, ich bin schon sehr klein. Aber ein Herz wie ein Löwe. Besonders mutig war mein Freund Rambo ja nicht. Aber dafür hatte er ja mich. Zusammen gehörte uns die Welt.
Und natürlich Schipa. Später erfuhren wir, dass wir nur wegen ihr mitgenommen wurden. Gabi, die uns in Polen abgeholt hatte, wollte eigentlich nur sie. Aber die in Polen gaben nur die ganze Familie ab oder keinen. Und so nahm sie uns alle mit. Sie konnte da auch noch nicht ahnen, wie sehr sich mein großer Freund Rambo in ihr Herz schleichen würde. Er fühlte diesen verwaisten Platz, die Leere im Herzen dieser Frau, seit Orka gegangen war. Wie sich später herausstellen sollte, ist dieser Platz bis heute unbesetzt und wird es wohl auch bleiben. Ungeachtet dessen hat mein großer Freund Rambo die Gabi bis ans Ende seiner Tage nicht mehr aus den Augen gelassen.
Aber zurück zu Schipa. Nur unwesentlich kleiner als mein Freund Rambo war auch sie eine Dogge. Doch nicht mächtig wie er, sondern fein und trotz ihrer Größe von eleganter Anmut. Sie war unsere Göttin. Sie hatte es nicht nötig laut zu werden. Ein Blick, eine Geste genügte und jeder wusste wieder, wo seine Grenzen waren. Sich in den Armen von Schipa einzukullern bedeutete Seligkeit.
Zuletzt nun Sarenka, der Name bedeutet auf Polnisch soviel wie „kleines Reh“. Und so war sie: Ein scheues, ein zerbrechliches Wesen, noch kleiner und vor allem noch zierlicher als ich. Schipa war meine Speise und mein Trank, für Sarenka jedoch war Schipa die Atemluft. Nur in ihrer Nähe fühlte sie sich sicher. Wie wir eine Familie wurden, warum das Schicksal uns so zusammengewürfelt hat, ich weiß es gar nicht mehr. Zwei Riesen und zwei Zwerge.

Doch zurück zu den Ereignissen des Januar 1997. Mit jedem Tag gewöhnten wir uns mehr an dieses neue, zugegebenermaßen luxuriöse Leben. Verschlechtert hatten wir uns definitiv nicht. Dann kamen auch noch andere Leute, um uns kennen zu lernen. Eines muss ich noch erwähnen. Heute ist es mir selbstverständlich, aber damals war das absolut neu für mich. Alle Leute, die kamen, streichelten und kraulten uns. Also am Rücken, am Bauch, einfach überall. Ein herrliches Gefühl! Manche konnten das besser und andere halt nicht so gut. Kurz nach unserer Ankunft kamen eine andere Frau und ein Mann. Die Frau war echt nett. Ich hab mich bei der auch oft auf den Schoss gesetzt. Und streicheln konnte die, einfach fabelhaft. Ich meine Streicheln muss man schon auch können. Manche sind hektisch, andere berühren einen kaum. Aber die, die konnte das. Er war auch sehr nett, aber eigentlich mag ich Frauen lieber. Immer schon.
Die beiden, Anita und Jürgen heißen sie übrigens, kamen dann noch oft.
Allerdings stellte sich im Laufe der Zeit heraus, dass die Lynn und Gabi, bei denen wir jetzt wohnten, an Sarenka und mir nicht so viel Interesse hatten, wie an Schipa und Rambo. Besonders Gabi, die uns geholt hatte, war ganz vernarrt in die beiden Großen, nicht umsonst wird sie „die Doggenmama“ genannt. Lynn dagegen behandelte uns alle gleich lieb. Aber wie gesagt, die war sowieso meine erste Wahl. Mit ihr entdeckte ich auch die Freude, Frauen beim Wäschebügeln zu beobachten. Ehrlich, das ist so etwas von beruhigend. Noch heute schlafe ich am besten, wenn gebügelt wird. Überhaupt ließ ich die Lynn nie aus den Augen. Und weil ich so klein bin, hat sie mich auch manchmal nicht bemerkt, wenn ich ihr nachgeschlichen bin und hat mich auch mal in einem Zimmer eingeschlossen. Aber nie absichtlich und sie hat mich auch immer schnell befreit. Und ihr könnte ich ja nie böse sein.

Menschen verständigen sich untereinander ganz eigenartig. Gar nicht so wie wir. Vieles versteht man nicht gleich, manches ist zur Gänze unverständlich. Aber Lynn hat mich immer verstanden. Sie ist halt eine Traumfrau. Und weil sie nicht nur mich, sondern auch andere Hunde so irre gut versteht, hat sie das inzwischen zu ihrem Beruf gemacht, bei ihr können Hunde in die Schule gehen. Eine Berufung, wie ich aus zweifelsohne kompetenter Sicht hinzufügen möchte. Leider konnte ich den freien Platz in ihrem Herzen nicht füllen. Sie ahnte vielleicht schon zu der Zeit, dass der eine ganz besondere Hund ihres Lebens auch bald kommen würde. Und er kam. Ich gönne es den beiden. Meiner Liebe zu Lynn tut es keinen Abbruch.
Nicht dass nun der Eindruck entsteht, man hätte uns zwei Kleine rausgeworfen. Aber bei Lynn und Gabi war halt nicht der richtige Platz für uns. Und das zeigte sich schon bald.
Von einer wunderbaren Sache muss ich noch berichten. Sie nennen es 'Spazierengehen'. Keiner in Polen wird es mir glauben. Aber die gehen mit uns tatsächlich raus auf die Felder. Meistens werden wir sogar mit dem Auto an die schönsten Plätze gefahren. Und da dürfen wir dann laufen und schnuppern und buddeln......Unseren Haufen zusammen zu halten bei all den super Eindrücken, die auf uns einströmten, war zugegebenermaßen nicht einfach. Ja und da muss ich eben auch von etwas anderem erzählen, was uns anfänglich und auch noch später oft gar nicht behagte. Die hatten da so Halsbänder mit Leinen dran, und die machten sie an uns fest. So konnten wir nur noch dahin, wo sie es uns erlaubten. An dieses Gefühl mussten wir uns erst gewöhnen. Ich kann nur von mir reden; ich war da regelrecht in Panik. Aber man gewöhnt sich. Und als wir uns mehr vertrauten, durften wir auch wieder oft ohne Leine laufen.
Dieses spazieren gehen mit diesen Leinen war für Lynn und Gabi offensichtlich recht anstrengend. Anita und Jürgen, die eh immer öfter bei uns waren, gingen also auch beim spazieren gehen mit und halfen dabei, die vielen Leinen zu halten. Die waren ehrlich nett. Besonders zu mir. Eigenartig fand ich es dann aber schon, als sie dann plötzlich mit mir alleine spazierengehen wollten. Freiwillig tat ich das nicht. Auf dem Hinweg mussten sie mich ziehen und auf dem Rückweg lief ich vorne weg. Aber die kamen immer öfter. Dann jeden Abend. Da hab ich schon immer auf sie gewartet. Und irgendwann nahmen sie mich mit zu sich nach Hause. Mich ganz allein. Ich musste sogar dort schlafen. Die legten mir eine Decke neben ihr Bett, und ich sollte mich da hinlegen. Klar hat es nicht lange gedauert, und ich war im Bett. War so schon schlimm genug. Dann haben sie mich wieder zu den anderen gebracht und sind nur noch zum abendlichen Spaziergehen gekommen. Das hat mir inzwischen echt gut gefallen. Und dann musste ich wieder bei denen schlafen. Und irgendwann bin ich dann dort zuhause gewesen. Irgendwann waren Anita und Jürgen meine neue Familie.

Aber so einfach war das nicht. Es ist schon schwer aus seiner Hundefamilie gerissen zu werden, um dann bei Leuten zu sein, die von so was wie mir keine Ahnung haben. Er, also der Jürgen, schien mich von Anfang an gern zu haben, und ich glaube, er hat mich von Anfang an verstanden. Anita hatte mich gewiss auch sehr gerne, aber bis sie und ich uns verstanden haben, verging noch viel Zeit. Von lückenloser Rudelbildung hatten die beiden am Anfang jedenfalls keinen blassen Schimmer. Es gab jede Menge Ärger. Warum zum Beispiel holen die mich zu sich, wenn sie mich dann in dem fremden Haus stundenlang alleine lassen? Klar hab ich das nicht so einfach hingenommen. Aber weder die Bearbeitung der Haustür, noch der Fluchtversuch über die Arbeitsplatte der Küche gelang. Ich musste ausharren, bis die Leute zurückkamen. Sie haben wohl schon bemerkt, wie viel Angst ich hatte. Sie haben es auch nicht mehr häufig gemacht. Überhaupt ist es mit der Zeit immer besser geworden. Sie blieb immer öfter bei mir, und er erfüllte mir sowieso jeden Wunsch. Sie mussten halt viel lernen. Sie waren bisher auch noch keine richtige Familie. Aber dafür bin ich ja da.
Auch erst viel später habe ich erfahren, dass er sich schon als kleiner Junge einen Freund wie mich gewünscht hat.

Ihr Haus ist jetzt mein Haus. Sie sind meine ganz eigene Familie. Ich spüre ihre Liebe und ihr Verständnis bei jedem Atemzug. Mit ihnen habe ich die Berge erklommen und das Meer gesehen. Und ich habe den leeren Platz in sogar zwei Menschenherzen gefüllt.

Acht lange Jahre lebte ich – rundum sorglos, geborgen und glücklich - bei meiner neuen Familie. Dann wurde ich irgendwie krank und immer kränker. Seit Monaten spüre ich die Sorge meiner beiden Menschen, oft sind sie niedergedrückt und ganz still, immer öfter spüre ich ihre Tränen über mein Fell kullern, wenn sie mich Arm halten.
Drum habe ich mein Frauli jetzt gedrängt, diese Geschichte aufzuschreiben. Denn viel gemeinsame Zeit wird uns nicht mehr bleiben.

Ich bin in großer Sorge, was aus den beiden werden soll, wenn ich schon bald nicht mehr hier sein kann.

Euer Krecik

Anmerkung von Gabi, die Krecik und seine Hundefamilie aus Polen geholt hat:

Am 27. Oktober 2005 war es so weit. Krecik hat sich auf gemacht zur Regenbogenbrücke, dort trifft er seinen Freund Rambo, die kleine Sarenka und die wundervolle Schipa wieder – und dort wird er warten, bis in ferner Zeit die zwei Menschen, die erst mit einem kleinen Hund zu einer richtigen Familie geworden sind, kommen, um mit ihm über die Regenbogenbrücke zu gehen.

Anmerkung von Anita und Jürgen:

Die Rettung von Krecik und seinen Freunden war der Anfang einer langen Reihe von erfolgreichen Vermittlungen, wo Hunden aus schlechten Verhältnissen in ein besseres Leben geholfen wurde. Hunderte gingen seither diesen Weg. Hoffentlich werden alle so geliebt wie unser Krecik. (as)

zur Übersicht