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Tyson

Das Hunderudel in Guntersdorf ist eigentlich eine recht friedliche Meute, obwohl hier ein ständiges Kommen und Gehen ist, sich die Zusammensetzung und damit die Strukturen wieder und wieder ändern.
Der innere Kern dieser Meute, das Hausrudel - auch „der Stammtisch“ genannt - zeigt in der Regel ein hohes Maß an Flexibilität und integrativer Kraft. In der Regel - aber durchaus nicht immer. Das Ende der Toleranz ist nämlich ganz schnell erreicht, wenn ein „Stammtischler“ das Gefühl hat, daß ein Neuling an seinem Stuhl sägt. Oder daß sich um einen solchen Neuling über die Maßen gekümmert wird. Wie das damals bei Tyson der Fall war, ich muß es wohl zugeben.

Tyson - schon der Name zeigt, wes Geistes Kind sein früherer Besitzer gewesen sein muß - war ein Doggenrüde von stattlicher Größe, oder besser Höhe, denn zur wirklich stattlichen Erscheinung fehlten ihm gut und gern 25 Kilo an Gewicht.
Bis er im Alter von zwei Jahren von aufmerksamen Hundefreunden befreit werden konnte, hauste Tyson in einem Pferdestall. Vielleicht weil er ein überaus friedfertiger Hund war - so gar nicht „tysonesk“ -, hatte der Besitzer also das Interesse an ihm verloren, kümmerte sich kaum um ihn, bemerkte wohl auch nicht, daß das knapp bemessene Futter fast zur Gänze von seiner etwas durchsetzungsfähigeren Berner Senn-Hündin beansprucht wurde; was für den Rüden übrig blieb, war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Originalton des Besitzers, als Rudi und Bettina den Hund abholten: „Da hint im Schdoi is er - nehmts’n mit, i bin froh, wenn’en nimma seg!“ („Dort hinten im Stall ist er, nehmt ihn mit, ich bin froh, wenn ich ihn nicht mehr sehe!“) Vermutlich war auch Tyson froh, diesen Menschen nicht mehr länger sehen zu müssen.

Tyson, das gelbe Gerippe

Unterernährung und die feuchte Kälte im Stall hatten ihm arg zugesetzt. Als er zu uns kam, war er ein hustendes, rotzendes, aber vor allem hungriges gelbes Gerippe.
Ja, natürlich erforderte das eine Sonderbehandlung: viele schöne Worte, Streicheleinheiten und anfangs vier, später drei Mahlzeiten am Tag. Wobei es das harmlose Wort „Mahlzeiten“ nicht ganz trifft: Schüsseln in der Größe einer Baby-Badewanne, randvoll gefüllt, das ganze fixiert in einem großen Kübel mit Bauschutt; nur so konnten wir verhindern, daß er schon beim ersten Schnapper die Schüssel umkippte und sich die Schonkost gleich einem quark-reis-weißen Lavastrom über den Kies im Hof ergoß. Denn selbstredend mußte die Fütterung im Freien stattfinden. Es spritzte, gurgelte, sabbelte, quatschte, und in affenartiger Geschwindigkeit war die Wanne leer. Oft gönnten wir uns dieses Naturschauspiel - in respektierlicher Entfernung wohlgemerkt. Denn gleich nach dem Essen, ganz aufgewühlt von dem Glück, sich den Bauch wieder mal fast bis zum Platzen vollschlagen zu können, schüttelte er sich, daß die Sabberbacken nur so flogen - und Spucke und Speisereste auch. Überhaupt - die Sabbelei dieses Tyson war selbst für eine hartnäckig unbelehrbare Freundin seiner Rasse (als die ich mich schon wiederholt geoutet habe) eine Prüfung. Er brauchte nur einmal durchs Haus zu gehen, schon hingen von den Möbelecken, Tischkanten und Sofalehnen, selbst von Wänden und Decken lange, zähe Schleimfäden - als würde man in Guntersdorf jetzt auch in Not geratene Aliens beherbergen.
Ich habe mal beobachtet, wie Tyson vor seiner eigenen Spucke erschrak: Er schüttelte sich kräftig, daß die Sabbel-Fetzen nicht nur seitwärts, sondern auch hoch in die Luft flogen. Als das Zeug dann - direkt über ihm - wieder runter kam, sah es für ihn aus, als würde man mit irgendwas nach ihm werfen - mit einem beherzten Satz zur Seite konnte er sich in Sicherheit bringen.
Bei Tyson galten einfach andere Maßstäbe. Mit dem riesigen Schädel, hängenden Augenlidern, Ohren groß wie Pfannkuchen und seinem bald wieder erlangten Normalgewicht von über 80 Kilo, war er schon eine beeindruckende Erscheinung. Manche Leute, die sich bei uns für ihn beworben hatten, zogen kopfschüttelnd wieder ab, nein, so gigantisch hatten sie ihn sich nun auch wieder nicht vorgestellt.
Eine Familie kam angefahren mit so einem kleinen „Ford K“; sie hatten sich gedacht, daß der Hund, den sie da in dem Tierheim in Guntersdorf abholen wollten, gut hinten im Stauraum, also einer etwas größeren Taschenablage sitzen könne...

Aber ich wollte ja noch erzählen, wie es dazu kam, daß in Guntersdorf die Erde bebte.
Coba, unser Doggenrüde und vermeintlicher Hausherr, war zwar gut einen Kopf kleiner als Tyson, war aber trotzdem - oder gerade deshalb - ziemlich sauer auf den gelben Riesen. Da Coba nicht gerade wenig zu verlieren hatte, war er also Titelverteidiger und Herausforderer in einer Person. Eine Zeitlang hatte er zähneknirschend mit angesehen, wie sich „alles nur noch um diesen Tyson dreht“, und als dieser mir auch noch schöne Augen machte, platzte ihm der Kragen, und er mußte ihm - wenigstens einmal - zeigen, wo der Hammer hängt. Glauben Sie mir, im Angesicht zweier raufender Doggenrüden, die zusammen an die 150 Kilo auf die Waage bringen, sind Sie heilfroh, wenn Sie nicht allein zu Hause sind. Lisa war zur Stelle, Gott sei Dank. Zu zweit konnten wir die beiden trennen, bevor es ernsthafte Blessuren gab.

Als sich einige Wochen später eine junge Familie für Tyson interessierte, war dieser es dann, der dem Coba eine Nase drehte. Stolz und glücklich verließ er uns, stieg zu den Leuten ins Auto und fuhr davon. Wir kauften einige Kübel Wandfarbe und machten uns daran, seine Spuren zu beseitigen.

Es war eine nette Familie, die ihn zu sich holte - und hart im Nehmen. Sie hatten schon mal eine Sabbeldogge gehabt und ließen sich nicht unterkriegen. Ob des neuen Designs nannten sie die Wände im Eßzimmer einfach „Stracciatella“ - und damit basta. Tyson und die Tochter des Hauses verstanden sich prima, auch aber nicht nur weil das Kind bis hin zu den Schokokeksen alles mit dem Hund teilte.
Er gab einen prächtigen Familienhund ab, dieser riesige gelbe Hund, für den immer ein bißchen andere Dimensionen zu gelten hatten. Leider war das Glück nur kurz. Nach knapp einem Jahr - er war gerade mal drei - starb Tyson an Herzschwäche. Vielleicht hatte der Herzmuskel Schaden genommen in der Zeit, als er zum Gerippe abmagerte; vielleicht ist aber auch die Natur bloß nicht eingerichtet - auf so große Hunde. Jammerschade eigentlich. (gh)


Tyson mit der Tochter des Hauses

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