Tränen – zurück an den Absender!

von Daniel Stain

„Kalbin“. Der Ausdruck hat mich fasziniert, wohl allein deshalb, weil er mir sehr spät in meinem (bis dahin städtischen) Leben begegnete. „Färse“ hatte man ja mal gehört, auch wenn es bis zur Definition nicht gereicht hätte: geschlechtsreifes weibliches Hausrind, das noch kein Kalb geboren hat.

Irgend etwas war mit dem geschlechtsreifen weiblichen Hausrind, das noch kein Kalb geboren hat, nicht in Ordnung. Auf der Bratpfannen-Wiese am Waldrand lag es abgesondert von der Gruppe. Mehr als ihr über hundert Meter hinweg freundliche Worte zuzurufen, wenn ich mit den Hunden an dem schattenlosen Rinderelend vorbeilief, blieb mir nicht zu tun. In meinem rinderunkundigen Herzen bewege ich schon seit Jahren die Frage, wie die Tiere auf dieser Wiese die gnadenlose Sommerhitze inklusive Heerscharen sadistischer Insekten aushalten und welche karmischen Hintergründe solche Qualen wohl haben können.

Dabei ist die Bratpfannen-Wiese nicht die einzige Prüfung der hier gehaltenen „Nutztiere“. Milchvieh-Haltung bei Kleinstbauern ist nach meiner Übersicht die für Tierleiden ergiebigste Variante in der Landwirtschaft. Die Rinder aus der Familie unserer Kalbin aber, im Abgleich zu anderen Horrorstätten, auf die sich das Tierfreund- und Tierschützerauge in den zurückliegenden Jahrzehnten so richten durfte oder musste, kommen wenigstens über den Sommer raus aus dem „Höllenloch“, also dem Stall. Und neben der Bratpfannen-Wiese gibt es auch solche Grünflächen, die – welch Überlebensglück – mit Bäumen bestückt lindernden Schatten spenden!

„Frau Grob, irgendwas stimmt mit dem einen Rind auf der Wiese oben am Wald nicht!“ Solche Rückmeldungen an die namentlich absichtlich entstellte Bäuerin richten sich eher auf mein eigenes Seelenwohl als dass sie je etwas bewirkt hätten. „Ja, ja, die hat was am Fuß“, resoniert meine Beobachtung mit einem überraschenden Aufflackern von Nutztierhalterverantwortungsbewusstsein. Man hat es wenigstens schon bemerkt.

Ein Tag später liegt das geschlechtsreife weibliche Hausrind, das noch kein Kalb geboren hat, wohl aber, wie ich inzwischen erfahren habe, schon „bestückt“ wurde, unter einem Baum auf einer kleinen Weide nahe am Hof. Ich möchte lieber nicht wissen, wie sie dahin gekommen ist, denn laufen kann sie ja nicht. Überlegungen diesbezüglich mischen sich gleich unerfreulich mit Bildern von Rindern, die an den Traktor angebunden gnadenlos hinterhergezogen werden. Alles schon gesehen! Traktoren scheinen überhaupt unverzichtbar für die Rinderhaltung, weniger weil man damit Futter herankarren kann, sondern weil bei sich hinziehenden Geburten und mangelndem Vermögen oder Bereitschaft, entsprechende Tierarztkosten zu bezahlen, im Geburtskanal feststeckendes Betriebskapital auch schon mal mit dem Traktor herausgezogen wird. Das habe ich allerdings der Göttin sei Dank bisher nur gehört.

Der Kalbin geht es schlecht. Das kann man sehen. Und egal, um welche Tageszeit ich meine Hunde zwanghaft an dieser Wiese vorbeiführe, sie liegt. Ihr Elend beschert ihr aber immerhin Zuwendung und Fürsorge, wie sie Nutztiere dieses Hofes nur ganz knapp prämortal erfahren: Futter direkt vor der Nase, Wasser auch. Das privilegiert sie gegenüber den Kollegen auf der Bratpfannen-Wiese, bei denen es schon mehr als ein Mal vorgekommen ist, dass das Wasser ausging.

Die Freundin des Jungbauern - naja, so jung ist er nicht mehr und behält den Titel auch wegen mangelnden Nachwuchses - gibt sich besorgt. Ja, ja, sie kümmere sich persönlich. Und: „Der Tierarzt war auch schon da!“ Holla, dann ist Holland in Not, wenn der Tierarzt auch schon da war. Die nachfolgenden Tage allerdings zeigen: viel ausrichten konnte er wohl nicht. Die Kalbin liegt weiterhin. Mein Seelenauge sieht unter der von Mist verkrusteten und mit diesem schon eine untrennbare Verbindung eingegangenen Haut das heranwachsende Kalb.

Mein Seelenverwandtschaftsnotfallprogramm für solche Fälle meiner landwirtschaftlichen Nachbarschaft sieht Energiesendungen, Heilmantras und Gebete vor! Aber die Kalbin will nicht? Sie blockt alle Gutmenschentaten auf spirituell gehobenen Sphären ab? Ich kann ihr nichts „schicken“! Da ist eine Blockade und die ziemlich rauhe Botschaft: Sinnlos! Lass das!

Warum? Naja, würde man nachdenken, bevor man geflissentlich altruistisch und mit spirituellem Eifer hier mit dem Licht herumplanscht, käme man vielleicht drauf? Sie will also nicht unter Schmerzen ein Kalb gebären, das sie keine Sekunde unter die Zunge bekommt, das sofort nach der Geburt, entgegen geltenden Tierschutzrechts und einschlägiger Haltungsvorschriften, an der Stallwand im Höllenloch an einer ca. 50 cm langen Kette auf der Stallgasse angebunden wird? Sie will also nicht danach Hektoliter von Milch von sich geben, in die sich so viel Kalzium aus ihrem Körper abbaut, das sie nach kurzer Zeit aussieht wie der Tod und nur noch eiern statt laufen kann? Sie will also nicht nach etlichen solcher Horrorgeburten, nach finaler Auspumpung ihres Milchsees unter Schlägen und Tritten auf einen Viehtransporter verladen werden, der sie weiß der Geier in welchen Schlachthof bringt, wo sie eventuell noch einen Tag ohne Futter und Wasser stehen muss, bevor sie eventuell unsachgemäß mit dem Bolzenschuss-Apparat nicht ausreichend betäubt am Haken strampelnd hochgezogen wird? Alles schon gesehen, nicht gehört!

Das will sie nicht? Da guckt der Heiler hilflos!

Neuerdings versuche ich es auch mal mit Demut. Ganz ungewohnt. Ich nicke, sage, das sei okay für mich, freue mich an meinen Hunden, deren existenzielle Bedürfnisse und ein paar Zuwendungskilometer darüber hinaus gedeckt sind. Wasser steigt in Augen auf. Dafür hat sie kein Verständnis, die Kalbin.

Freitag. Die Woche geht zu Ende. Die Kalbin hat es hinter sich. „Heute morgen war der Tierarzt da und hat sie verschossen“, lügt Frau Grob. Dass „Tierarzt“ und „verschossen“ nicht zusammenpasst, kommt ihr gar nicht in den Sinn. So firm ist man mit deutschen Gesetzen wieder nicht; mit dem Tierschutzgesetz schon gar nicht. Interessent auch das hier gern im Süddeutschen verwendete Präfix „ver-„, wo die Tat korrekt doch eigentlich mit „er-„ zu benennen wäre. Aber „erschießen“ wäre tragisch; „verschießen“ trägt durch die Vorsilbe „ver-„ wie in „versaut“, „vertan“, „vergeudet“, „versiebt“ noch irgendwie das Verlorene in sich. Und sei es auch nur das verlorene Betriebskapital: Kalbin inklusive Kalb! Doppelverlust sozusagen!

Das muss ich sehen. Ich weiß nicht, warum, aber ich muss zu ihr gehen. Die Hunde absolvieren eine ungeplante Gehorsamsübung und müssen frei absitzend auf dem Weg und weit genug entfernt von diesem Desaster bleiben, während ich die wenigen Schritte auf die Wiese gehe. Unter der Drohung meiner Annäherung steigen drei Billionen Fliegen in Wolken auf. Was heißt denn eigentlich „verschießen“? Ich sehe es gleich: Bolzenschussapparat. Akkurat, keine Frage. Aus meinen wochenlangen Aufenthalten in Schlachthöfen weiß ich genau, wo der Bolzen korrekt angesetzt werden muss. Und dort sitzt er. Offensichtlich hat hier ein Schuss genügt; in Schlachthöfen habe ich das schon anders gesehen! Die Augen sind stumpf; „gebrochen“ passt hier nicht. Die Zunge drückt steif heraus. Der „kranke“ Lauf vorne rechts ist dick geschwollen. Phlegmone, so meine postmortale, auf semimedizinischer Ausbildung fußende Diagnose, die keine Therapie mehr nach sich ziehen wird. Die Tragik springt mich an wie ein Tiger und wirft meine Rhetorik auf den Rücken. „Ach, Schatz!“ Zu mehr reicht es nicht.

Der Jungbauer erscheint schon misstrauisch am Fenster. Er hat Grund dazu, denn er weiß, dass er das gar nicht darf: Ein Wirbeltier töten darf nur, wer die entsprechende Ausbildung dazu hat, oder so. Den genauen Text gucke ich jetzt deshalb nicht nach, weil er ohnehin nicht interessiert; zumindest nicht die Zielgruppe. Und der Bauer weiß, dass ich es weiß. Verzagt über das Minenfeld notwendig „guter“ nachbarschaftlicher Beziehungen tapsend, trotze ich ihn mutig an: „Herr Grob, Sie wissen schon, dass das verboten ist?“ „Das machen alle so!“, bescheidet der Realist den weltfremden „Tierschützer“. Und jetzt kommt das finale Argument: „Wenn ich dafür den Tierarzt hole, kostet das 50 Euro!“ Ach so. Das geht natürlich gar nicht – mit drei Häusern und ich weiß nicht wieviel Grund. Ganz nebenbei staune ich noch darüber, dass es offensichtlich viel preisgünstiger ist, eine Kalbin ins Jenseits zu befördern als 70 Kilo Dogge, denn da habe ich für eine Euthanasie schon weit mehr als 50 Euro gelöhnt. Aber ich habe auch nicht einmal ein Haus und gar keinen Grund! Das wird’s sein.

Heute Vormittag bin ich zu Hause. Und wenn der LKW kommt, das schaue ich mir an. Nein, das muss ich mir anschauen. Und ich weiß schon wieder nicht warum. Vielleicht hat mir das die Kalbin „geschickt“?

Der LKW kommt um die Mittagszeit. Brütende Hitze. Der Fahrer fragt bei mir nach dem Weg. Ich springe aufs Fahrrad und fahre hinterher. Am Grob-Haus vorbeikommend streckt mir die Bäuerin den Rinderpass entgegen mit der Bitte, diesen dem Fahrer auszuhändigen. Sie selbst zieht es vor, sich zurückzuziehen. Der Rinderpass: tragisch und kurz gelebt, illegal liquidiert, aber ein ordnungsgemäßer Rinderpass. KZ-Bürokratie. Wen interessieren schon Gesetze und Ethik, aber die Formalitäten müssen stimmen. Keine Beamtensau erregt sich wegen eines auf der Stallgasse angeketteten Kuhkindes, aber wehe, der Rinderpass fehlt! Beruhigt das jetzt, dass irgend etwas an diesem Prozedere seine Ordnung hat?

Wir sind ganz allein: die Kalbin und ihre hunderttausend Fliegen, der Tierkörperbeseitigungsanstalt (TKBA)-Fahrer und ich. Seiner Mimik ist nicht zu entnehmen, wie er sich zu meiner Zeugenschaft stellt. Er macht seine Arbeit. Und er macht seine Arbeit gut.

Der LKW hält auf Höhe des Kadavers, der ungefähr fünf Meter weit entfernt in der Wiese liegt. Der Fahrer öffnet die hydraulische Ladeklappe seitlich an dem Edelstahl-Laderaum. Von ihrer Begrenzung befreit, drängen Tierkörper hervor.

Zu unterst liegen zwei Kälber. Wenn das Leben schon die Arschkarte vergibt, dann gleich noch mit Extra-Bonus. Nicht genug, dass man die Geburt oder die wenigen Stunden danach nicht überlebt, nein, dann positioniert man auch noch auf der Entsorgungstour des TKBA-Lasters ganz am Anfang und kommt unter den tonnenschweren erwachsenen Kollegen zu liegen. Ein schwarzes Kalbköpfchen mit oh Wunder geschlossenen Augen (welche Gnade!) drängt über die Ladefläche hinaus. Das Fell macht einen klebrig-feuchten Eindruck. Totgeburt? Da hat sich schon das Abtrocknen nicht mehr gelohnt? Das kleine Konnte-nicht-Leben wirkt unnatürlich flach; kein Wunder bei den schwergewichtigen Mitreisenden, die offensichtlich erst später zugestiegen sind und auf dem Winzling liegen.

Ebenfalls zuunterst ein zweites Kalb, von dem aber nur die weißen Hinterbeinchen zu erkennen sind. Das übrige Kadaverlein wird wie von einer gigantischen Decke durch die darüberliegenden Tierleichen verhüllt.

Die Leiber der Toten oben erzählen vom Landleben: üble Wunden und Hautverletzungen, die erkennbar und fossilisiert so weit prämortalen Ursprungs sind, dass sie nicht nur mit diesem nichts zu tun haben, sondern den Mitreisenden im Parterre auch noch verkünden, was ihnen erspart geblieben!

Gesprächsversuch, sehr sachlich: „Kriegen Sie die da überhaupt noch rein?“ Die Frage ist ernst gemeint, denn ich finde das Abteil schon dermaßen überfüllt, dass es mir ein Rätsel ist, wie der Fachmann meine Kalbin da noch unterbringen will. Die Antwort ist eher mürrisch, fast verständnislos: „Klar!“

Der Fahrer schreitet professionell und fleißig erst zur Kalbin, dann zur Tat. Mit einem Blick erfasst er die nicht-tierärztliche Bolzenschusssituation. Der wird es auch wissen: Das machen alle so!  Für die diensteifrig vom „Jungbauern“ um die Hinterbeine gelegte Kette hat er nur ein müdes Lächeln übrig. Routiniert fährt er die an der Rückwand des Edelstahlabteils befestigte Drahtseilwinde ab, legt sie meiner Kalbin um den Hals und los geht die wilde Fahrt. Die Kalbin wird gedreht und über den Boden gezogen. Ganz genau beobachte ich den Leib, denn Bolzenschuss ist eigentlich nur eine Betäubung. Getötet werden die Tiere im Schlachthof durch das Ausbluten. Aber physiologische Reaktionen sind nicht zu erkennen. Und statt des Tierarztes, der den Tod feststellt, haben die Fliegen ihr Urteil ja längst gefällt: lecker Eiablage!

Die Kalbin wird gezogen. Es ist ihr hoffentlich egal. Der Zug ist unerbittlich, gleichmäßig, nicht besonders schnell. Jetzt geht es nach oben, über die Rampe in die dritte Lage. Stopp! Der Fahrer hält die Winde an. Ich habe immer noch kein Konzept davon, wie er meine Kalbin hier noch unterbringen will. Er steigt auf die Rampe hinauf, über die Leiber hinweg. Das schwarze Kälbchen wird noch ein Stück flacher. Aus den hinteren Leibesöffnungen des braunen Erwachsenenrinds rinnt Urin im Rhythmus der Kletterbewegungen des Fahrers auf seinem elastisch quatschendem Gebirge. Er fummelt am Drahtseil. Manipulationen, deren Sinn ich nicht verstehe, deren Effekt ich aber gleich erlebe: sauber „faltet“ er die Kalbin in der dritten Ebene mit Leib nach vorne, Kopf zurück. Passt, sitzt; Luft braucht’s keine mehr. Ganz schnell schließt er die hydraulische Ladeklappe. Eine logistische Meisterleistung!

Die Fliegen sind auch weg. Irritierend! Wo sind die jetzt? Mit drin? Als er vorhin den Laderaum öffnete, kamen keine raus. Alles sieht sauber aus. Ein LKW steht auf der Straße. In 20 Metern Entfernung grasen die Kollegen, regungs-, rührungslos. Wenn man so mit den „essentials“ des Überlebens beschäftigt ist, hat man sicherlich keinen Nerv für derlei philosophisch-ethisch-ästhetische Beobachtungen und Reflexionen. Mit jeder einzelnen dieser Kühe lässt sich eine Boutique eröffnen: ossi surround - (herausstehende) Knochen rundum. Behängt mit Hautmist oder Misthaut. In einem anderen Fall vor vielen Jahren hatte ich im tierschützerischen Übereifer einmal versucht, beide voneinander zu trennen. Unmöglich: wer den Mist herunterkratzen will, hat die Haut in der Hand. Jene völlig überholte Landwirtsweisheit „gut gepflegt ist halb gefüttert“ wirft Jungbauern wie den meinen vor Lachen in die Güllegrube.

Grußlos verlässt der Fahrer den Schauplatz. Ich habe ihm gar nicht gesagt, dass es eine logistische Meisterleistung war. Angst vor Zynismus?

Ich radele zurück. Am Hof erwartet mich die alte Bäuerin. Wir unterhalten uns über die Härte des Jobs eines TKBA-Fahrers und spekulieren, ob diese im Verdienst entlohnt wird. Inzwischen hat der LKW weiter oben gewendet und kommt auf dem Rückweg am Hof vorbei. Zu meiner völligen Verblüffung versteckt sich Frau Grob vor dem Fahrer hinter dem Scheunentor. Warum verstehe ich das jetzt nicht?

Eigentlich hatte ich gedacht, den makabren Teil der Veranstaltung hinter mir zu haben. Böser Irrtum:

Plötzlich Hochwasser in den Augen der alten Bäuerin. Sie fängt tatsächlich an zu weinen. Was geht denn hier ab? Ich bin so verwirrt, dass ich ihren Äußerungen gar nicht ganz folgen kann: „Sie hat mir soo leid getan......“ Sie redet von meiner Kalbin? Sie redet von meiner Kalbin! „Kann man nichts machen....“, „hatten wir schon mal vor Jahren...“

Sie hat mir so leid getan?

Was der Anblick der postmortalen Drängelei im TKBA-Laster mit Kälbchen unten und geschundenen Altrindern oben nicht geschafft hatte, das schafft die Bäuerin jetzt: sprachlos entsetzte Fassungslosigkeit! Tränen für die tote Kalbin? Keine Träne für die noch lebenden Kollegen auf der Weide hier oder auf der Bratpfannen-Wiese am Wald? Für die Schweine hinterm Haus, deren Haltung ich nur durch Zufall bei der Suche nach einer meiner Katzen mal gesehen habe, die zu beschreiben das Grauen des TKBA-Lasters bei weitem übersteigen würde? Für die schuld- und wehrlosen Kälbchen, im düsteren Höllenloch weit entfernt von ihrer Mutter an der Stallwand so kurz angekettet, dass sie sich gerade noch hinlegen können? Und für all das andere völlig unnötige Tierelend, das hier schon längst so zur Selbstverständlichkeit geworden ist, dass jedes Thematisieren auf völliges Unverständnis stößt?

Dreieinhalb Tränen, die mich an die Tastatur zwingen. Dreieinhalb Tränen, die einen mehrseitigen, für manche nur schwer lesbaren Text produzieren. Dreieinhalb Tränen, die mein Weltbild erschüttern. Dreieinhalb Tränen, für die ich einen guten Psychologen konsultieren müsste, der mir das bitte mal erklärt!

Déjà-Vu! Ja, ja, ja, das gab es doch schon einmal. Aus den Tiefen über 20-jähriger Tierschutzarbeit steigt ein nämliches Bild auf: Eine fluktuierende Zusammenrottung mehrerer Alkis auf einem halb zerfallenen Hof, die ihrer vermeintlichen Tierliebe dergestalt kreativen Ausdruck zu verleihen meinten, einen „Mini-Zoo“ einrichten  zu müssen: exotische Vögel, Affen, Ziegen, Ponys. Die Tiere dort sind reihenweise wahlweise verhungert, verdurstet oder erfroren. Der Oberindianer dieser Truppe hing ganz besonders an einem durch seine Qualen inzwischen brandgefährlich gewordenen Berberaffen. Die xte Kontrolle durch die Tierschützer: „Herr Monk, wir wollen mal den Berberaffen sehen!“ Herr Monk hat mit so etwas kein Problem und fummelt an dem Schloss des düsteren Schuppens. Er öffnet die Tür. Der Berberaffe liegt rücklings mit rechtwinklig nach oben gerichteten Armen, als wäre er auch jetzt noch bereit, das rettende Stück Brot entgegenzunehmen, tot auf den 15 Lagen Kot. „Herr Monk, der ist ja tot!“, würgt der Tierschützer hervor. Jetzt, wo sie es sagt, dringt das Bild wohl auch durch Monks Alkoholschleier zum Restbewusstsein. Der Mann wird ganz starr. Dann fällt er fast nach vorne, beugt sich nieder, schaufelt den Berber-Kadaver aus dem Mist, nimmt ihn in die Arme und vergräbt weinend sein Gesicht im verwesenden Fell. Herr Monk weint bitterlich und völlig authentisch über den Tod des Affen, den er hat verhungern lassen (was eine pathologische Untersuchung später bestätigt).

Ich nehme Monks Tränen und gieße sie zusammen mit denen von Frau Grob. Und jetzt sitze ich vor der Phiole, starre drauf, verstehe es immer noch nicht und sorge mich etwas: ich habe es vor 20 Jahren nicht verstanden, verstehe es heute nicht und so langsam wird zumindest für mich die Zeit knapp!

Ach so, falls das nicht rübergekommen sein sollte: Frau Grob ist brutal nett! Stets hat sie ein freundliches Wort für mich, ein schmeichelndes Lob für meine Hunde, ein paar geschenkte Eier hier, ein Schüsselchen Erdbeeren dort. Vor vielen Jahren hatten wir einmal ernsthaft Zoff miteinander, als ich es nicht mit ansehen konnte, wie der 14 Jahre alte Hund an der 14 Jahre alten Kette so langsam krepierte. Seit wir das Thema Tiere sorgsam ausklammern, kommen wir ganz prima miteinander klar. Und: leicht hat sie es auch nicht!

 

2008
Alle Rechte an diesem Text / Copyright: Daniel Stain
Der Autor Daniel Stain kann nur unter Pseudonym veröffentlichen. Würde "Familie Grob" Kenntnis von dieser Veröffentlichung erlangen, müsste der Autor um sein Wohl und das seiner Tiere fürchten.