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Wer hat gesagt, daß das Leben fair ist?

Manche Geschichten schreiben sich leicht, manche nicht. Hier ist eine von denen, die mir schwerfallen.

“Hera” hatte sie in ihrem früheren Leben geheißen. Auf den ersten Blick war klar: unpassender konnte ein Name wohl nicht sein. Dieses graugetigerte, abgemagerte, zitternde Häuflein Knochen und Fell, das partout nicht aus dem Auto steigen wollte, war weit entfernt von einer “Heldin”.
Ihr selber war der Name ebenfalls unbekannt; kein Wunder, weil sie wohl kaum mit ihrem Namen oder überhaupt angesprochen worden war. Sie war nämlich eine von über 100 Doggen, die bei einem finanziell verkrachten, gewissenlosen Hundezüchter beschlagnahmt bzw. von Tierschützern befreit werden konnten. Wir haben sie also “Helena” genannt, weil sie eindeutig mehr schön als mutig war.
Bis zu ihrer Befreiung im Alter von drei Jahren hatte Helena offenbar niemals ihren Zwinger verlassen, in dem Dreck, Gestank und drangvolle Enge herrschten; vier ausgewachsene Doggen auf sechs Quadratmetern waren dort nichts Ungewöhnliches. Wen wundert es da, daß diese Hündin weltfremd, ängstlich und überhaupt im Kopf ein bißchen verwirrt war? Helena war schwer lenkbar; niemand - am wenigsten sie selber - wußte, was sie jeweils als Nächstes tun würde.
So hatte sie beim Spazierengehen auf dem letzten Wegstück manchmal das dringende Bedürfnis, sich in Sicherheit zu bringen; dann lief sie einfach nach Hause, und nichts und niemand auf der Welt hätte sie in diesem Moment stoppen können. Oder wenn auf einem Sofaplatz, wo Helena sich hinsetzen wollte, schon ein anderer Hund saß - kein Problem, sie setzte sich einfach drauf oder so knapp daneben, daß der andere das Feld räumen mußte. Wer da weiß, wie wichtig für Hunde die “Politik der Sitzplätze” ist, kann sich vorstellen, daß der Verdrängte nicht fröhlich pfeifend einfach weggeht, sondern wirklich stocksauer mit Murren und Knurren protestiert. Dieses Murren und Knurren war für Helena dann wiederum unbegreiflich. Mit großen, unschuldigen Augen schien sie zu fragen “Warum bist du so garstig zu mir? Ich habe dir doch nichts getan!”

Aber es machte uns Freude zu sehen, wie Helena sich wacker herumschlug mit dem vielen Neuen, das ihr begegnete; sie war entschlossen - trotz ihrer wahrlich schlechten Startbedingungen - ihr Leben zu leben, so gut es eben ging. Nie werde ich den Ausdruck fassungslosen Staunens in Helenas Gesicht vergessen, als sie die ersten Hühner ihres Lebens sah. Lange stand sie reglos an Nachbars Hühnerzaun, in Betrachtung versunken, fasziniert von diesen gackernden, scharrenden Wunderwesen.
Zu Helenas Lieblingsbeschäftigungen gehörte Autofahren. Sie wetzte im Bus ständig von einem Fenster zum nächsten, rempelte auch schon mal andere Hunde weg, um nur ja nichts von dem zu verpassen, was da so unbegreiflich an den Fenstern vorüberflog.
Insgesamt hatte die Hundemeute es nicht leicht mit dieser brisanten Mischung aus Unverfrorenheit und Tolpatsch; und so waren sie wirklich nicht allzu traurig, als Helena “endlich abgeholt” wurde. Eine Frau C., die einschlägige Erfahrungen mit ängstlichen Doggen behauptete, wollte unbedingt unsere Helena haben. Frau C. tat, als wüßte sie wirklich, worauf sie sich einließ, und als hätte sie mit dem “armen Ding” endlos Geduld. Sie schien immer zuversichtlich: “Das wird schon noch!”
Nach vier Monaten allerdings kam sie mit der Wahrheit rüber: Sie hat zu Helena keine Bindung herstellen können, Helena habe nicht mal Freude am Spazierengehen, und außerdem habe sie ihr nicht beibringen können, ihre Häufchen auf die Wiese zu setzen statt auf den Beton vor der Haustür (letzteres schien uns wohl der eigentliche Trennungsgrund). Als Helena zurückgebracht wurde, spazierte sie auf den Hof, schlenderte um die Ecke und ins Haus, als wäre sie nie weg gewesen, sondern mit dieser fremden Frau nur mal kurz Gassi gegangen; sie hat sich nicht einmal nach Frau C. umgedreht. Beim Spaziergang später an diesem Tag war sie schrecklich ausgelassen, stürzte auf dem Glatteis und überschlug sich; wir hatten schon Angst, die Knochen krachen zu hören.

Aber es sollte doch noch klappen: Bettina und Rudi, die schon eine etwas schwierige Hündin von uns hatten, wollten sie dazu nehmen. Jetzt begann Helenas glücklichste Zeit. Sie avancierte zu Frauchens Liebling, durfte immer und überall hin mitfahren; einmal die Woche ging’s gemeinsam ins Büro, die beiden waren unzertrennlich. Bettina hat uns ein ganzes Fotoalbum mit Bildern von Helena geschickt, zur Dokumentation, daß aus Helena ein wirklich toller, kluger und belastbarer Hund geworden war. Sie war Bettinas ganzer Stolz.

Bis hierher wäre diese Geschichte ja eine schöne Geschichte, wäre da nicht dieser unselige Tag gewesen, als Helena morgens tot in ihrem Bettchen lag. Vermutlich eine Magendrehung hat dieses Glück nach nur zehn Monaten jäh beendet. Das Leben war wirklich nicht besonders fair zu dieser Hündin.
Bettina schrieb: “Helena war unser Mittelpunkt. Ich durfte sie verwöhnen, und wir hatten eine unendlich schöne Zeit zusammen. Sie erfuhr wenigstens noch, daß sie was Besonderes war...”
(gh)

Helena beim Sonnenbad

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