Les Miserables Ohne Licht und mit abgestelltem Motor rolle ich im Morgengrauen in die Einfahrt, der Kies knirscht unter dem schweren Wagen, ein Transporter, der mir nicht gehört. Die paar Wachsamen unter unseren Hunden begrüßen mich am Tor, überrascht, ich bin lange fort gewesen. Leise gehe ich ins Haus, sinke auf die Couch im Wohnzimmer und ziehe mir eine Decke über den Kopf. Ich will nur noch schlafen und nicht darüber nachdenken müssen, was denn werden soll aus diesen Hunden draußen im Auto, die ich in ein paar Stunden werde ins Haus holen müssen. Ich tauche ab in einen erschöpften Schlaf, wir werden sehen.... Wenige Wochen zuvor hatte Erika
Heilmann, Aktive für „alles Mögliche in Not“, aus ihrem
Feriendomizil in Südwestfrankreich angerufen, ziemlich aufgelöst: Eine
alte Frau dort hatte bei ihrem Tod 15 alte Hunde zurückgelassen auf
ihrem Anwesen, das früher einmal eine Hundepension gewesen war. Die
letzten zwei Jahre, in denen die alte Dame noch schwer krank und
bettlägrig gewesen war, hatte sich ihr Lebensgefährte mehr schlecht
als recht um das Rudel gekümmert, sie alle in einem Verschlag auf ein
paar Quadratmetern zusammengepfercht. Die Erben der alten Frau nun, Sohn
und Tochter, mußten das Haus verkaufen, um die Erbschaftsteuer zahlen
zu können. Die Hunde sollten also das Anwesen räumen. Nur zwei der
vierbeinigen Senioren konnte man im Bekanntenkreis unterbringen. Der
örtliche Tierschutzverein würde die restlichen 13 zwar annehmen,
machte aber klar, daß man sie einschläfern lassen würde, falls sie
nicht vermittelt werden konnten; ihre Chancen waren also gleich Null.
Der Tierarzt stieß ins selbe Horn: Das beste sei wohl, man würde sie
gar nicht erst ins Tierheim bringen, sondern sie an Ort und Stelle
töten; er könne ja vorbeikommen.... Drei Wochen später zogen wir also
los, die Erika und ich, mit Ziel Aquitanien, dem entlegensten Winkel
Frankreichs - von hier aus gesehen jedenfalls. Wir reisten recht
komfortabel in dem Heilmann’schen Mercedes Sprinter, der für den
Transport von Hunden optimal eingerichtet ist. Trotzdem wir flott fuhren
und nicht trödelten, würden wir hin und zurück drei volle Tage
unterwegs sein, 3.200 Kilometer insgesamt. Erikas Angebot, einen
Kurzurlaub in ihrem Landhaus dranzuhängen, mußte ich ausschlagen: Mein
schlechtes Gewissen plagt mich schrecklich, wenn ich meine Hunde
vernachlässigen muß und Lynn allein die ganze Arbeit am Hals hat. Und da waren wir nun. Nach längerer
Abwesenheit, was selten vorkommt, hab ich auch so schon genug um die
Ohren, die acht Neuankömmlinge aber brachten den Dampfkessel
Guntersdorf ordentlich zum Sieden, das Überdruckventil vibrierte
drohend. Ein geschlossenes Rudel dieser Größe aufzunehmen, konnte die
13köpfige Hausmeute wirklich nur mit Mühe verkraften. Unser
behelfsmäßiger und einziger Zwinger für absolute Notfälle war keine
große Hilfe, zumal die Franzosen sich nun untereinander auch nicht mehr
so recht vertragen wollten - und eingesperrt mochten sie schon gar nicht
mehr sein. Chaos zog am Horizont herauf. Schon das Austeilen der 21
Futterschüsseln war eine logistische Meisterleistung, zweimal täglich. Als erstes galt es also jetzt, die auf
unsere Presse- und Internetkampagne hin eingegangenen Anrufe auf
brauchbare Pflegeplätze zu durchforsten. Das Ergebnis allerdings war
ernüchternd: Gerade mal zwei Hunde konnten wir in den ersten Tagen
auslagern, und das auch nur vorübergehend. Heute, sieben Monate nach dieser
Aktion, die uns alle einer Zerreißprobe unterzogen hat, können wir
folgende Bestandsaufnahme erstellen: Peppino, ein kleiner schwarzer
Mischling. Er hatte eine große Beule aus Knochenkrebs mitten auf der
Stirn. Jeannette, unsere Katzen-Tante, hat ihn aufgenommen und betreut,
die wenigen Wochen, die ihm noch blieben, von denen er aber jeden Tag
genossen hat.
Junior ist ein richtiger
Familien-Schäferhund geworden. Trotz kaputter Hüftgelenke liebt er
seine täglichen Spaziergänge und vor allem sein Frauchen (Foto rechts).
Die hübsche kleine Fiffie (Foto links) wurde von Roswitha Schmidt adoptiert, die ein
großes Herz für alte Hunde hat. Chispa, Schäfer-Mix, hat die Delle am Kopf nicht nur äußerlich, sie ist überhaupt ein bisschen verrückt, schnappt auch mal, ist sonst aber ganz lieb. In ihrer Pflegefamilie B. liebt man sie so, wie sie ist.
Rocky, der Kurzhaar-Dackel, den wir ob
seines schlohweißen Gesichts den „Weißkopfadler“ genannt haben,
ist bei seiner Pflegefamilie noch mal so richtig aufgeblüht. Zusammen
mit seiner neuen Freundin Hexie verteidigt er verbissen sein neues
Zuhause gegen jedweden Eindringling.
Goodie, der Ausbrecherkönig, hat sich
auf seinem Pflegeplatz derart danebenbenommen, dass man ihn uns wohl
oder übel zurückbringen musste: Den einen Tag hat er in Angelikas
Abwesenheit die Haustür geöffnet, um sie landauf, landab zu suchen.
Beim nächsten Mal ist er im Auto aus dem Halsband geschlüpft, hat das
Trenngitter zerrissen, die Autotür geöffnet - nicht ohne vorher die
Innenverkleidung der Tür abzumontieren -, und schon konnte er die
Angelika wieder landauf, landab suchen gehen. Nächster Versuch in der
Transport-Box, stabil genug, dass man darin Hunde im Flugzeug
transportieren kann: Goodie hat ein Loch in die Hartplastik-Box
gebissen, dass er schon den Kopf durchstrecken konnte. Dann kam er also
zurück nach Guntersdorf. In der ersten Nacht büchste er aus, um
Angelika zu suchen; die Polizei brachte ihn anderntags zurück. Loocky, der hübscheste von allen mit seinen beigen Locken und den großen, dunklen Augen, fand ganz schnell ein neues Zuhause direkt in unserer Nähe.
Rita, irgendeine schwarze Mischung in
Labradorgröße, wird „die Gestrenge“ genannt. Sie beobachtet alles
und jeden mit dem Gesicht einer grantigen, alten Hausmeisterin (einer
von der Sorte, die den ganzen Tag auf der Lauer liegen, ob nicht
vielleicht einer der Mieter mit Damenbesuch nach oben zu schleichen
versucht). Beharrlich stellt Rita den Mäusen nach und überwacht
sachkundig und mit Ausdauer meine Arbeit im Büro. Strategisch klug hat
sie sich in meinem Zimmer ein Körbchen gewählt, von dem aus sie auch
nachts noch alles gut unter Kontrolle hat.
Rouqine, Zwerg-Spitz in Orange, war
zuerst auf einem Pflegeplatz, wo man aber ihrem unbändigen Hunger nicht
widerstehen konnte. Als kleine, kurzatmige Kugel kam sie nach
Guntersdorf zurück. Hier hat sie schnell wieder abgespeckt, weil sie
den lieben langen Tag hinter mir her stiefelt - extreme Anhänglichkeit
steht schon in der Rassebeschreibung dieser „Pommeraner-Spitze“. Und nun kommt die Krönung dieses
Sammelsuriums gestrandeter Existenzen: Der alte Buck. Das Wort „hässlich“
beschreibt nicht mal im Ansatz diese Erscheinung caniden Urgesteins.
Eine Mischung völlig undefinierbarer Komponenten, Färbung, Statur und
Gangwerk erinnern am ehesten an eine Hyäne. Unter jedem seiner
triefenden Augen hat er eine üble Warze. Die Zähne sind auch nach der
Sanierung ein wildes Durcheinander brauner Ruinen mit immer wieder
aufflackernden, übel riechenden Zahnfleischentzündungen. Auch das Herz
macht schon ein bisschen Ärger. Heidi G. kam mit Tochter und
Schwiegersohn viele hundert Kilometer angereist unter dem Vorwand, die
Tierfreunde Niederbayern zum Tag der offenen Tür besuchen zu wollen. In
Wirklichkeit kam sie nicht ohne Hintergedanken, hatte sie sich doch via
Internet unsterblich in das Bild unseres alten Buck verliebt. Am Ende
dieses schönen Festes fragte sie uns, ob sie ihn mitnehmen dürfe. Wir
willigten ein, schweren Herzens, weil wir wussten, dass wir ihn
bitterlich vermissen würden.
Happy End für „les Miserables“: Sie alle sind gut untergekommen. Keiner von ihnen mußte auch nur einen einzigen Tag mehr im Zwinger verbringen. Und was, so frage ich Sie, sind schon 3.200 Kilometer und das bisschen Streß gegen so viele zufriedene, alte Hunde.
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